Von Gerd Kommer und Felix Großmann
Erfolgreich Vermögen bilden oder vorhandenes Vermögen bewahren ist nicht nur eine Frage des „Was tun?“, sondern auch eine Frage von „Was nicht tun?“, „Was unterlassen?“, „Was beenden?“ – also von Fehlervermeidung und Fehlerbeendigung.
„Vermeide Fehler!“ – das klingt als Ratschlag in Gelddingen und auch im Leben allgemein langweilig und altbacken. Man kann dieses handlungsleitende Konzept allerdings auch sexier benennen, beispielsweise als „Via-Negativa-Prinzip“, von Via Negativa, „der negative Weg“ oder „der Weg des Vermeidens“. Via Negativa in diesem Sinne steht für die Methode, gute Ergebnisse zu erzielen, indem man schädliche Entscheidungen vermeidet und negative Zustände beendet. Im Vordergrund steht hier also nicht das positive Tun, sondern das negativ anmutende Vermeiden und Beenden.
Der Via-Negativa-Terminus kommt ursprünglich aus der Philosophie Platons (428 v. Chr. – 347 v. Chr.) und wurde auch in der frühzeitlichen christlichen Theologie verwendet. Der Denker Nassim Taleb hat den Begriff in seinem Buch Antifragile (2012) in jüngerer Zeit neu popularisiert. Eine gelungene kurze Zusammenfassung findet sich bei Chakraborty 2020.
Derjenige allerdings, der das Konzept vor fast 50 Jahren zum ersten Mal im Kontext von Privatanlegerinvestieren formulierte, war der Amerikaner Charles Ellis in seinem Aufsatz „The Loser’s Game“ (Ellis 1975) – ohne jedoch die Bezeichnung Via Negativa zu benutzen. Dieser Aufsatz war es auch, der John Bogle, den legendären Gründer von Vanguard, der heute zweitgrößten Fondsgesellschaft der Welt, 1976 inspirierte, den weltweit ersten Indexfonds für Privatanleger aufzulegen.
Das Via-Negativa-Prinzip
Das Via-Negativa-Prinzip besagt im Wesentlichen, dass der kumulative finanzielle und auch sonstige Erfolg in unserem Leben – so wie er sich zu einem bestimmten Lebensalter darstellt – eben nicht nur davon bestimmt wird, was wir bis zu diesem Zeitpunkt Schlaues, Richtiges und Gutes getan haben (die „positiven“ Entscheidungen), sondern genauso oder vielleicht sogar mehr davon, was wir Dummes, Falsches und Schlechtes unterlassen oder beendet haben (die „negativen“ Entscheidungen).
Das lässt sich illustrieren, indem wir die Sportart Tennis betrachten. Hier kann man ein Match gewinnen, indem man den Fokus darauf legt, weniger Fehler als der Gegner zu machen. In der Tat argumentiert Ellis in seinem oben erwähnten Aufsatz, dass im Amateurtennis (in Abgrenzung zum Profitennis) typischerweise derjenige Spieler mit der geringeren Zahl unerzwungener Fehler (Unforced Errors) gewinnt. Das sind die eigenen Fehler, für die man selbst die Hauptverantwortung trägt, nicht Fehler, die aus dem überlegenen Spiel des Gegners resultieren.
Wie uns die Strategie des Vermeidens und Beendens beim Investieren hilft
Zur Veranschaulichung: Ein Privatanleger setzt – z. B. weil er eines unserer Bücher gelesen hat – ein Weltportfolio aus preisgünstigen Indexfonds (ETFs) auf und praktiziert außerdem Buy-and-Hold sowie regelbasiertes Rebalancing. Zugleich hat dieser Privatanleger aber noch nennenswerte Investments in teuren, renditearmen kapitalbildenden Lebensversicherungen, Cash auf einem Bankkonto oberhalb der gesetzlichen Einlagensicherung [1] und Anteile an einem geschlossenen Fonds, der in Containerschiffe investiert. Dieser Privatanleger hat auf der Seite des positiven Tuns das Kluge und Richtige getan. Auf der Seite des negativen Tuns, der Via Negativa, hat er aber versäumt, gleichermaßen konsequent zu handeln. Dazu müsste er Schritte unternehmen, die drei genannten Investment-Fehler zu beenden.
Man kann sogar argumentieren, dass passives Investieren mit Indexfonds auf Buy-and-Hold-Basis überhaupt erst aus Via-Negativa-Gedankengut heraus entstanden ist. In den 1950er und 1960er Jahren hatte die empirische Finanzmarktforschung in den USA immer wieder gezeigt, wie schlecht aktives Anlegen im Aktienmarkt funktionierte, sprich dass es Renditen erzeugte, die zumeist unter der entsprechenden Marktrendite lagen. Daraus erwuchs unter einer Handvoll Absolventen der Universität Chicago die Idee, einen Fonds aufzusetzen, der all das einfach wegließ, was in aktiv gemanagten Fonds offensichtlich nicht funktionierte: Stock Picking und Market Timing. Damit war der erste Indexfonds im Jahr 1971 aus der Philosophie des Vermeidens und Weglassens geboren.
Ein struktureller Grund dafür, dass der Fokus auf die negative Seite, auf die Vermeidung des Schlechten und Falschen so mächtig ist, liegt in dem merkwürdig oft übersehenen Faktum, dass unser Wissen und unser Verstehen über Downsides (nachteilige Effekte) und darüber was nicht funktioniert, umfassender, präziser und verlässlicher ist, als unser Wissen und Verstehen darüber, was funktioniert.
Das lässt sich auch an der Jahrtausende alten Frage zeigen, was den Menschen zufrieden oder glücklich macht. Wir können ziemlich gut beurteilen, was Zufriedenheit und Glück von Menschen reduziert, aber wir können viel weniger gut beurteilen, was Zufriedenheit und Glück bewahrt oder erhöht. Vermutlich können Zufriedenheit und Glück besser gesteigert werden, indem man Handlungen und Zustände unterlässt bzw. beendet, die unglücklich machen, anstatt danach zu suchen, was einen glücklich macht.
Was vermögende Menschen kennzeichnet
Vermögende Menschen, die aus eigener Kraft reich geworden sind, wurden das auch deswegen, weil sie das Via-Negativa-Prinzip bewusst oder unterbewusst begriffen haben und konsistenter anwenden als weniger vermögende Menschen. Vermögende machen tendenziell weniger wirtschaftliche Fehler und beenden gemachte Fehler schneller als ärmere Menschen. Es sind also nicht nur ihre besonders klugen positiven Entscheidungen, also dieses oder jenes Investment zu tätigen, die den Reichtum bewirken, sondern ebenso ihre Fähigkeit, weniger schlechte, negative Finanzentscheidungen zu treffen als andere, also dieses oder jenes Investment zu vermeiden oder abzustoßen.
Die große finanzielle und nicht-finanzielle Bedeutung des Via-Negativa-Prinzips für den Erfolg in unserem Leben – fast egal wie man Erfolg definiert – kommt plastisch in den folgenden drei Zitaten zum Ausdruck:
- „The 20 percent of really dumb decisions that we make in life tend to hurt us a lot more than the smartest 20 percent of our decisions tend to help us.“ [2] – Nate Silver, amerikanischer Statistiker, ehemaliger Berufspokerspieler und Ratgeberbuchautor
- „You only have to do a few things right in your life so long as you don’t do too many things wrong.“ – Warren Buffett (Milliardär, Gründer und CEO des US-Unternehmens Berkshire Hathaway)
- „It is remarkable how much long-term advantage people like us have gotten by trying to be consistently not stupid, instead of trying to be very intelligent.“ [3] – Charly Munger [1924 – 2023] (Milliardär, Geschäftspartner und Stellvertreter von Warren Buffett)
- „Sometimes your best investments are the ones you don’t make.“ – Donald Trump (Immobilienunternehmer und ehemaliger US-Präsident)
- „I am as proud [stolz] of many of the things we [Apple] haven’t done as the things we have done.“ – Steve Jobs [1955 – 2011] (Mitgründer und langjähriger CEO von Apple)
Erfolgreich investieren ist selten ein einmaliges Ereignis oder das Ergebnis weniger einzelner Ereignisse, sondern ein fortlaufender Prozess, der dann zum Erfolg führt, wenn darin über einen langen Zeitraum (a) möglichst viele kluge Entscheidungen, die zu einer Upside (einem vorteilhaften Effekt) führen, und zugleich (b) möglichst wenig unkluge Entscheidungen getroffen werden, die eine Downside bewirken – das Via Negativa-Prinzip. Durch diese Kombination kann der Zinseszinseffekt sein gutes exponentielles Werk am besten tun.
Wir glauben, dass viele Privatanleger ihr Nachdenken und ihre notwendig begrenzte Aufmerksamkeit für das Thema Vermögensbildung zu sehr auf (a) und zu wenig auf (b) lenken. Die Gründe für diese falsche Balance könnten darin liegen, dass, erstens, der Via-Negativa-Teil bei der Vermögensbildung weniger spektakulär ist als die positive Suche nach dem sprichwörtlichen Jackpot-Investment, zweitens, der Erfolgsbeitrag negativer Entscheidungen (Vermeidung, Unterlassen, Beendigung) sich weniger leicht messen lässt als der Beitrag positiver Entscheidungen und drittens, die traditionellen Medien, das Internet und die Werbung im Finanzsektor sich viel stärker auf Berichterstattung rund um „Gewinne machen“ und „reich werden“ konzentrieren als auf Berichterstattung rund um „wie verhindere ich, dass ich Geld verliere oder ärmer werde?“.
Bis hierher haben wir nur von Theorie gesprochen. Wie äußert sich die Via Negativa in der Praxis des Investierens für Privathaushalte?
Sie äußert sich praktisch primär darin (a) die klassischen verhaltensmäßigen Anlegerfehler möglichst selten zu machen und (b) möglichst selten oder in geringem Umfang in schlechte Finanzprodukte zu investieren. Zunächst zu (a).
Investmentfehler, die wir nicht machen oder beenden sollten
Beispiele für gravierende Investmentfehler:
- Bevorzugt in das investieren, was in den letzten Jahren gut lief (prozyklisches Anlegen, Recency Bias)
- Klumpen- und Konzentrationsrisiken im eigenen Vermögen ignorieren, also zu wenig echte Diversifikation praktizieren
- Die auf lange Sicht hohen Opportunitätskosten (entgangenen Gewinne) verzinslicher und unverzinslicher Bankguthaben nicht erkennen
- Schulden nicht so schnell man kann zurückzahlen
- Kursprognosen oder andere Prognosen von „Experten“ oder von sich selbst zur Grundlage der eigenen Investmententscheidungen machen
- Glauben, dass „Experten“ oder man selbst verlässlich den besten Einstiegszeitpunkt im Aktienmarkt finden können
- Glauben, dass sich das Nehmen von Einzelwertrisiko bei Aktien und Unternehmensanleihen langfristig lohne
- Immobilien als besonders sichere Investments einschätzen
- Verpackung und Inhalt bei Finanzprodukten nicht auseinanderhalten können, z. B. bei kapitalbildenden Lebensversicherungen oder bei Private Equity-Investments
- Die Bedeutung von Nebenkosten des Investierens für das erzielbare Endvermögen unterschätzen
- Die schlimmen Interessenkonflikte, die in der Finanzberatung und Vermögensverwaltung bei nahezu allen Banken bestehen, nicht wirklich ernst nehmen
- Den fundamentalen Unterschied zwischen Vermögensaufbau und Vermögensbewahrung/Vermögensschutz in der eigenen Vermögensanlage ignorieren
Finanzprodukte, die wir nicht im Portfolio haben sollten
Zu den schlechten Finanzprodukten, die man möglichst selten oder in möglichst geringem Umfang im eigenen Portfolio haben sollte, gehören:
- Kapitalbildende Lebensversicherungen (siehe unser Blog-Beitrag hier)
- Private Rentenversicherungen (siehe unsere Präsentation hier)
- Aktiv gemanagte Aktien- oder Anleihenfonds (Rentenfonds)
- Aktiv gemanagte Misch-, Branchen-, Themen- und Dachfonds (siehe Blog-Beitrag hier)
- Hedge-Fonds (siehe unsere Blog-Beiträge hier, hier und hier)
- Geschlossene Fonds
- Zertifikate
- Offene Immobilienfonds (siehe unser Blog-Beitrag hier)
- Vermietungsimmobilien, wenn man nicht hauptberuflicher Immobilieninvestor ist und mehr als ca. sechs Wohneinheiten besitzt (siehe unser Blog-Beitrag hier)
Warum und in welcher Hinsicht diese Finanzprodukte schlecht und ablehnenswert sind, wird in den oben verlinkten Blog-Beiträgen und in den Büchern von Dr. Gerd Kommer umfassend dargelegt.
Fazit
Die Summe der Entscheidungen und Handlungen, die einen auf lange Sicht erfolgreichen Vermögensaufbau oder eine langfristig erfolgreiche Vermögensbewahrung befördern, lässt sich konzeptionell in eine positive und eine negative Sphäre aufteilen. Beide Sphären sind für den Langfristerfolg gleichermaßen wichtig, aber wir widmen der positiven Sphäre, dem „Was jetzt tun?“ viel mehr Aufmerksamkeit als der negativen Sphäre, dem „Was jetzt nicht tun?“ oder „Was jetzt abstellen?“. Die Finanzmedien verstärken dieses schädliche Ungleichgewicht. Wer das Via-Negativa-Prinzip ernst nimmt und in seinen monetären Entscheidungen umsetzt, wird damit seinen finanziellen Erfolg erhöhen.
Endnoten
[1] Die gesetzliche Einlagensicherung ist in der EU auf 100.000 Euro pro Bank-Kunde-Kombination begrenzt. Für Kontoguthaben oberhalb dieses Betrages besteht im Falle einer systemischen Bankenkrise wie derjenigen von 2008 bis 2011 ein beträchtliches Ausfallrisiko. In der Schweiz existiert kein vergleichbares Einlagensicherungssystem mit staatlichem Backing (siehe unser Blog-Beitrag zu Bankguthaben hier).
[2] „Die 20 Prozent wirklich dummen Entscheidungen im Leben schaden uns mehr als die 20 Prozent wirklich smarten Entscheidungen uns helfen.“
[3] „Es ist bemerkenswert, wie groß der Langfristvorteil ist, den wir erzielen, indem wir versuchen, konsistent nicht dumm, statt sehr schlau zu sein.“
Literatur
Chakraborty, Abhishek (2020): „Via Negativa: The Process of Making Good Decisions by Eliminating Bad Ones“; Jan. 2020; Internet-Fundstelle hier
Ellis, Charles (1975): „The Loser’s Game“; in: “ The Financial Analysts Journal; Vol. 31; No. 4; July/August 1975; pp. 19-26