Die Fragwürdigkeit von Einzelaktien­investments

Von Alexander Weis und Gerd Kommer  

Dieser Beitrag wurde im August 2024 aktualisiert.

Noch immer glauben viele börseninteressierte Privatanleger, darunter besonders häufig junge männliche Anleger und solche, die aus beruflichen Gründen kaufmännisches Wissen haben, die beste Art und Weise, in Aktien zu investieren, sei die Route über Einzelwerte, also über Stock Picking. Aus unserer Sicht ist das aus den fünf nachfolgend dargestellten Gründen ein Fehlschluss. Nur zwei eher schwache Argumente sprechen für Investieren in Einzelwerte.

 

(1) Einzelwertanlagen und Risiko

Einzelaktieninvestments bedeuten mehr Risiko bei lediglich gleicher statistischer Renditeerwartung – ein objektiv schlechterer Deal. Das ist keine Behauptung von uns, sondern eine Erkenntnis aus der Wissenschaft, für die Harry Markowitz und William Sharpe jeweils einen Wirtschaftsnobelpreis erhielten und die während der vergangenen 60 Jahre in einer nicht mehr zählbaren Menge von empirischen Studien bestätigt wurde.

In Einzelaktien zu investieren bedeutet, sich rund doppelt so hohen laufenden Schwankungen (Volatilität) auszusetzen wie bei einem global diversifizierten Aktienportfolio – ohne statistische Aussicht für dieses erhöhte Risiko mit einer hinreichenden Zusatzrendite kompensiert zu werden. Zweitens besteht bei einem Einzelwert stets ein Totalverlustrisiko, mit einem breit diversifizierten ETF-Aktienportfolio aus Tausenden von individuellen Aktien hingegen nicht. Drittens gibt es bei einem starken Einbruch eines Einzelwertes nie eine 100%-Gewissheit, ob dieser Einzelwert wieder „zurückkommt“. Bei einem global diversifizierten Aktienportfolio weiß man das jedoch sicher. Unsicherheit besteht lediglich darüber, wie lange die vollständige Erholung dauert. [1]

Die überraschend kurze statistische Lebenserwartung von börsennotierten und nicht börsennotierten Unternehmen haben wir hier analysiert.

Investieren in Einzelwerte bedeutet statistisch ganz einfach mehr Risiko ohne mehr Chance. Wie erstaunlich risikoreich selbst Apple, die für viele „beste Aktie der Welt“, seit ihrem Börsengang 1980 war, zeigen wir hier.

 

(2) Der Zeitaufwand bei Einzelwertinvestieren

Einzelwertinvestments bedeuten mehr Zeit- und Arbeitsaufwand. Diesen größeren Zeitaufwand könnte der Anleger ertragreicher auf anderen Gebieten investieren. Das kann innerhalb der Finanzmärkte sein, aber dort auf den richtigen Baustellen, die die Tachonadel bei Rendite und Risiko zuverlässiger in die richtige Richtung bewegen als Spekulationen mit Einzelwerten, z. B. die Asset-Allokation zwischen risikoreichen und risikoarmen Anlageklassen. Ertragreicher Zeit investieren kann aber auch auf anderen Gebieten des Lebens geschehen – Lebenspartner, Familie, Freunde, Hobbys, gemeinnützige Betätigungen, Beruf oder berufliche Weiterbildung, sprich „Humankapital“. (Hier ein Video von uns zum Thema Humankapitalinvestment.)

 

(3) Operatives Risiko und Einzelwertanlagen

Einzelwertinvestments bedeuten mehr operatives Risiko – ein Risiko, das in der Privatanleger-Community und in den Finanzmedien konsistent vernachlässigt und übergangen wird, obwohl operatives Risiko in jedem Großunternehmen ein „Riesenthema“ innerhalb der Risikomanagement-Funktion ist.

Beim operativen Risiko (OpRisk) geht es nicht um Investmentrisiko im engeren Sinne, also der Gefahr kurz- oder langfristiger Wertverluste einer Anlage, das sich aus ihr selbst oder dem Markt ergibt. OpRisk bedeutet vielmehr die Möglichkeit von Verlusten, die sich aus der eigenen praktischen Durchführung, aus der persönlichen Umsetzung, der Implementierung eines bestimmten Investments bzw. einer bestimmten Anlagestrategie ergibt, die bei korrekter Umsetzung nicht entstanden wären.

Ein anschauliches Beispiel für OpRisk ist das „Fat-Finger-Problem“, also allgemein formuliert das Risiko, sich bei der Eingabe einer Order (Kauf, Verkauf) für ein Kapitalmarktinvestment zu vertippen oder sonst wie zu irren, wenn dieser Tippfehler oder sonstige Fehler zu einem Nachteil führt – ein unmittelbarer Verlust oder Opportunitätskosten in Form eines entgangenen Gewinns.

 

(4) Sind Einzelwerte „strukturell“ sicherer als ETFs?

Es ist ein nicht ausrottbares, nie mit harten Fakten belegbares Ammenmärchen, dass Einzelwerte in einer „Megakrise“ wie z. B. einem Dritten Weltkrieg infrastrukturell oder rechtlich sicherer seien als ETFs, die in diese Einzelwerte investieren. Würde während einer solchen Krise eine Börse aufgrund staatlicher Vorgaben längerfristig schließen müssen, wie z. B. die deutsche Börse während des Zweiten Weltkriegs, würde das selbstverständlich Einzelwerte genauso betreffen wie ETFs. (Die US-Börsen und viele andere nationale Börsen außerhalb Europas waren auch während des Zweiten Weltkriegs offen.) Börsenschließungen würden im Übrigen die Möglichkeit außerbörslicher Verkäufe nicht ausschließen (Over-the-Counter-Handel). Generell werden Einzelwerte in der gleichen internationalen Infrastruktur von Banken, Börsen und spezialisierten Wertpapierdienstleistungsunternehmen verwahrt und gehandelt wie ETFs und andere Investmentfonds. Bricht diese Architektur (diese Systeme) zusammen, betrifft das Einzelwerte natürlich in gleicher Weise. Andere Vermögenswerte wie Immobilien, Lebensversicherungen, nicht börsennotierte Unternehmensbeteiligungen wären in einer solchen Krisensituation vermutlich sogar weit heftiger von marktbedingten und/oder rechtlichen Verkaufshindernissen beeinträchtigt. Ein verwandtes Pro-Einzelwert-Argument lautet, dass die rechtliche Struktur von Investmentfonds im Allgemeinen und ETFs im Speziellen in einer schweren Krise vielleicht nicht sicher sei und man sich aus dieser Risikosicht mit Einzelwerten besserstünde – ebenfalls ein Irrtum, siehe Argument 12 in diesem Blog-Beitrag.

 

(5) Leveraging ist smarter als Einzelwertinvestieren

Viele investieren deswegen in Einzelwerte (praktizieren Stockpicking), weil sie glauben, auf diese Art langfristig eine höhere Rendite als durch breit gestreutes Buy-and-Hold-Anlegen (passives Investieren) zu erzielen. Wie fragwürdig dieser Glaube aus der Sicht der Wissenschaft ist, hat Kommer in seinen Investmentbüchern vielfach gezeigt, z. B. in diesem.

Allerdings existiert selbst für denjenigen, den die wissenschaftliche Forschung zur Unattraktivität von Stock Picking nicht überzeugt, ein überlegener Weg die Renditeerwartung eines Aktienportfolios zu erhöhen als mit Stock Picking. Dieser rationale Weg besteht in der Nutzung des Kredithebels, neudeutsch in Leveraging, also durch Hinzufügung eines kreditfinanzierten Teils zum eigenen Investment, neudeutsch in der Erhöhung des Aktien-„Exposures“ durch Kredithebeln.

Hier ein praktisches Beispiel: Philipp besitzt einen global diversifizierten Aktien-ETF im Wert von 100.000 Euro. Es ist ein „100/0“-Aktienportfolio, er hat keine risikomindernden zinstragenden Anlagen in seinem Portfolio. Wenn der globale Aktienmarkt im relevanten Zeitfenster um 10% steigt, verdient Philipp 10%. [2] Das ist Philipp jedoch nicht genug. Er nimmt einen Kredit über 40.000 Euro auf und kauft dafür zusätzliche ETF-Anteile. Jetzt ist er mit 140.000 Euro investiert. Wieder steigt der Aktienmarkt um 10%, also 14.000 Euro. Bezogen auf sein Eigenkapitalinvestment (EK) sind das 14.000 ÷ 100.000 = 14% (exklusive Steuern, Zinsen und Kosten). Im Alternativszenario sinkt der Aktienmarkt um 10%. Für Philipp bedeutet das einen EK-Verlust von 14%.

Kredithebeln erhöht (hebelt) also die Upside und die Downside, genauso wie das für Einzelwertinvestieren der Fall ist. Aus der Sicht der Wissenschaft ist Leverage jedoch der klügere Weg, siehe z. B. hier. Wir sehen das ebenso. Die Vor- und Nachteile von Leveraging eines diversifizierten Aktienportfolios haben wir in einem eigenen Blog-Beitrag detailliert untersucht (hier) und betrachten moderaten Leverage als eine dem konzentrierten Investieren in Einzelwerte überlegene Lösung.

 

(6) Quellensteuern und Investieren in Einzelaktien

Ein weiterer, oft übersehener Spezialnachteil von Einzelwertanlagen bei Aktien liegt im Bereich der Quellensteuern auf Dividenden. Beschränkt man sich als steuerlich in Deutschland ansässiger Privatanleger jedoch auf Fonds-Investments, einschließlich Indexfonds-Investments, entfällt dieses in der Regel arbeitsaufwendige, ärgerliche Thema komplett. Hauptsächlich, weil für UCITS-Fonds im deutschen Abgeltungsteuerrecht die sogenannte steuerliche Teilfreistellung gilt, die die ausländische Quellensteuerbelastung pauschal ausgleicht, sodass eine manuelle Rückholung und/oder Anrechnung in der Einkommensteuererklärung nicht mehr erforderlich ist. [3]

Wir glauben, dass nur zwei Argumente für das Anlegen mit Einzelwerten sprechen. Das erste ist eher schwächlich, das zweite nur ein rein subjektives, emotionales Argument.

 

Geringere Kosten bei Einzelwertanlagen?

(a) Ja, mit einem Depot aus Einzelwerten ist es denkbar, die langfristigen „All-in-Kosten“ eines Depots geringfügig unter den niedrigen Level zu drücken, der mit breit diversifizierten ETFs auf Buy-and-Hold-Basis entstünde. Dafür müssen allerdings drei Voraussetzungen erfüllt sein, die in der real existierenden Praxis der meisten Einzelwertanleger eben gerade nicht gegeben sind: In dem Depot dürfen relativ zu seiner Größe nicht zu viele Einzelwerte und nur wenige „exotische Titel“ enthalten sein, bspw. die Aktie eines kleinen kanadischen Platinbergbauunternehmens. Ferner darf pro Jahr nur begrenztes Trading (Kaufen, Verkaufen) stattfinden.

 

Der Entertainment-Wert von Einzelaktien

(b) Direktanlagen in einzelne Aktien oder Anleihen machen manchen Anlegern einfach mehr Spaß. Für diese Anleger sind Kapitalmarktinvestments allgemein und Aktienanlagen im Speziellen nicht nur ein notwendiges Übel im Rahmen der langfristigen Vermögensbildung und Altersvorsorge, sondern eine spannende, aufregende Freizeitbeschäftigung, die – anders als z. B. Wandern, Kartenspielen oder ein Aquarium, aber ähnlich wie Lottospielen – nebenbei auch noch das Träumen von „finanzieller Freiheit“ oder schnellem Reichtum ermöglicht. (Zum Gummibegriff der „finanziellen Freiheit“, den jeder, wirklich jeder, anders versteht und definiert und viele Buchautoren oder YouTuber offensichtlich manipulativ interpretieren, haben wir einen Blog-Beitrag geschrieben – hier).

 

Fazit

Die ökonomische Vernunft spricht bei normalen Privatanlegern gegen Einzelwertanlegen:

Der einzige objektive Vorteil von Investieren in einzelne Aktien ist der mögliche Entertainment-Faktor (Spaß), den das für einzelne Anleger bringen kann. Darüber hinaus hat Einzelwertanlegen aus unserer Sicht eigentlich nur Nachteile: Es bedeutet relativ zu einem global diversifizierten ETF-Aktienportfolio mehr Risiko ohne statistische Hoffnung auf entsprechende Mehrrendite, mehr Arbeit- und Zeitaufwand sowie quellensteuerliche Nachteile. Niedrigere Kosten als ein ETF-Anleger wird ein Einzelwertanleger nur erzielen, wenn er sich auf eine kleine Zahl von Einzelwerten beschränkt und wenig tradet.

 

Endnoten

[1] Der Weltaktienmarkt ist ein strukturell resilienter Organismus, ein einzelnes Unternehmen hingegen ein strukturell fragiler Organismus.

[2] Etwaige Steuern und Kosten ignorieren wir der Einfachheit halber.

[3] Diese Aussage gilt nicht für die Konstellation einer so gen. vermögensverwaltenden GmbH mit Sitz in Deutschland. Bei diesen ist die quellensteuerliche Abwägung zwischen Einzelaktien und ETFs anders.

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