Asset Price Inflation im Kontext von Inflations­messung und Geldpolitik

Von Felix Großmann und Gerd Kommer  

Viele Privatanleger sorgen sich derzeit über das Risiko einer steigenden Inflationsrate. Das geschieht vor dem Hintergrund der seit etwa 2008 sehr expansiven Geldpolitik der meisten westlichen Zentralbanken – darunter der EZB – und einer zwar noch niedrigen aber jüngst anziehenden Inflation. In diesem Zusammenhang wird von Kritikern der Geldmengenausweitung und Niedrigzinspolitik oft das Argument der so genannten Asset Inflation oder Asset Price Inflation (API) vorgebracht.

Das Argument besagt im Kern, dass die offiziell ausgewiesene Inflationsmesszahl, die Verbraucherpreisinflation/VPI (englisch Consumer Price Inflation/CPI), die tatsächliche Inflation zu niedrig abbilde. Dies deswegen, weil die VPI nur die Zunahme des Preisniveaus von Konsumgütern und -dienstleistungen ausdrücke, nicht jedoch die langfristig stärkere Zunahme des Preisniveaus von Investmentgütern (nachfolgend „Investment Assets“). Die von der Zentralbank ausgeweitete Geldmenge schlage sich jedenfalls zum Teil in erhöhten Investment Asset-Preisen nieder.

Die eigentlich zu niedrige VPI werde argumentativ von den Zentralbanken missbraucht, um zu belegen, dass ihre expansive Geldpolitik bisher keine Inflation ausgelöst habe. Würde man die API in eine erweiterte Inflationskennzahl mit einbeziehen, wäre die tatsächliche Inflationsrate schon seit Jahren höher.

Außerdem trage API zur wirtschaftlichen Ungleichheit in der Bevölkerung bei, weil nur die vermögendere Hälfte der Gesellschaft von ihr profitiere. Die ärmere Hälfte besitze keine nennenswerten Assets und habe daher auch keinen Nutzen aus gestiegenen Immobilienpreisen und Aktienkursen.

Einige Zahlen zur Illustration: Der Preis (der Kurs) der Asset-Klasse „Aktien-Global“, gemessen beispielsweise am MSCI World (Standard) Index, stieg in den zehn Jahren von 2011 bis 2020 um durchschnittlich nominal 11,4% per annum (in Euro, Total Return Index). Deutsche Hauspreise nahmen im gleichen Zeitraum um 6,5% p.a. zu. Würde man die Nettomietrenditen von geschätzt 2,5% hinzurechnen, lägen wir bei 9% p.a. Dem stand die deutsche VPI von lediglich 1,2% p.a. gegenüber.

Im vorliegenden Blog-Beitrag wollen wir uns die wesentlichen praktischen Argumente ansehen, die für oder gegen das Konzept der Erweiterung der VPI um eine Asset Inflation-Komponente (API) sprechen.

Die Erweiterung oder Verbreiterung der konventionellen VPI-Kennzahl um API in eine „erweiterte Preisinflation“ oder „Expanded Price Inflation“ nennen wir nachfolgend der Kürze halber „EPI“.

 

Klarstellung zu Wohnkosten im Kontext der Verbraucherpreisinflation

Bevor wir zu den Argumenten Pro und Contra Einführung einer EPI kommen, möchten wir festhalten, dass „Wohnkosten“ im Sinne von Warmmieten, sprich eine Immobilienkomponente, auch heute schon in die allgemeine VPI einfließen. Die Feststellung dieses Sachverhalts wird im Kontext des API-Themas von Medien, Buchautoren und Internet-Bloggern gerne „vergessen“.

Je nach nationaler VPI-Definition haben Warmmieten ein Gewicht von bis zu 35% im Warenkorb der allgemeinen VPI. Hier sind vier konkrete Beispiele für die Gewichtungen von Warmmieten, sprich Wohnkosten in der konventionellen VPI-Definition.

Ungefähres Gewicht von Warmmieten
im VPI/CPI-Warenkorb (Stand 2020)
Land/RegionName der Inflationskennzahl (Kürzel)Gewicht Warmmieten im Warenkorb
DeutschlandVPI32%
SchweizVPI27%
USACPI33%
EUHVPI7%

In den westlichen Ländern liegt die „Warmmietenkostenquote“ (der Anteil der durchschnittlichen Warmmiete am durchschnittlichen Nettohaushaltseinkommen) im langfristigen Mittel zwischen 25% bis 35%. Das deutet darauf hin, dass die Größenordnungen dieser Gewichtungen realistisch sind. (Warum das Wohnkostengewicht im Harmonisierten Verbraucherpreisindex/HVPI von Eurostat im Vergleich so niedrig ist, ist uns nicht bekannt.)

Nicht berücksichtigt werden in der VPI Wohnkosten allerdings in Bezug auf selbst genutztes Wohneigentum. Auf die Implikationen dieses speziellen Aspekts kommen wir weiter unten zu sprechen. Auch die Kosten oder Preiseveränderungen anderer Investment Assets gehen – wie bereits erwähnt – nicht in die VPI ein.

 

Die Historie der Diskussion einer um API erweiterten Inflationsmesszahl

Die Frage der Erweiterung der VPI um eine API-Komponente ist in der Wirtschaftswissenschaft ein alter Hut. Schon 1953, also vor fast 70 Jahren, veröffentlichten die beiden US-Ökonomen Alchian und Klein hierzu einen Aufsatz, der seitdem in buchstäblich jeder akademischen Publikation zur Frage der konzeptionellen Angemessenheit der VPI zitiert wird (Alchian/Klein 1953). Ein weiterer EPI-Aufsatzklassiker – Goodhart 2001– ist ebenfalls schon eher betagt. Sowohl Alchian/Klein als auch Goodhart waren Mainstream-Ökonomen und befürworteten die Einführung einer EPI, waren sich jedoch auch der vielen theoretischen und praktischen Hürden einer solchen Maßnahme bewusst.

Da der EPI-Sachverhalt theoretisch eigentlich simpel ist, liegen letztlich alle wichtigen Argumente seit Jahrzehnten leicht verständlich und für jedermann frei zugänglich auf dem Tisch.

Bis heute wurde die laufende Erhebung und Veröffentlichung einer EPI jedoch in keinem westlichen Land durch die nationalen Statistikbehörden eingeführt. Auch die Zentralbanken stellen in ihrer Geldpolitik formal nicht auf eine EPI ab, wenngleich ein starker Anstieg der Asset Preise, insbesondere bei Aktien und Immobilien, in den Publikationen und Verlautbarungen der Zentralbanken nahezu ständig thematisiert wird, jedenfalls, wenn er zu einem gegebenen Zeitpunkt vorliegt – von Ignorieren oder Totschweigen kann keine Rede sein.

Ein einzelnes aus wohl Hunderten möglichen Beispielen während der vergangenen drei Jahrzehnte ist die berühmte Rede des damaligen US-Zentralbank-Chefs Alan Greenspan im Dezember 1996, in der er in Bezug auf die davor stark gestiegenen US-Aktienkurse von „irrational exuberance“ warnte (irrationaler Überschwang). (Greenspans Warnung war letztlich falsch, da viel zu früh. US-Aktienkurse kletterten danach noch über dreieinviertel Jahre um kumulativ 112%, bevor der Dot-Com-Crash im April 2000 begann. Wer aufgrund Greenspans Warnung im Dezember 1996 seine Aktien verkaufte, verdiente über die folgenden Jahre wahrscheinlich weniger als ein strikter Buy-and-Hold-Anleger, der den Zentralbank-Chef einfach ignorierte.)

Auch die Bundesbank hat sich in den letzten Jahren mehrfach und oft ausführlich zu den starken Preissteigerungen von Wohnimmobilien und ihren Implikationen für die Finanzmarktstabilität geäußert. Derzeit prüft die EZB in Abstimmung mit den nationalen Statistikbehörden der 19 Ländern der Eurozone, inwieweit die Einbeziehung von Wohnimmobilienpreisen in eine Inflationskennzahl sinnvoll und durchführbar ist (Siedenbiedel 2020).

Auch die Bundesregierung sieht eine EPI offenbar grundsätzlich positiv. Sie vermeldete Ende 2020: „Deutschland unterstützt die Initiative zur Einbeziehung des selbstgenutzten Wohneigentums in den für europäische Zwecke berechneten harmonisierten Verbraucherpreisindex, auch wenn eine europaweit einheitliche methodische Umsetzung eine sehr große Herausforderung wäre.“

Wer sich genauer und unvoreingenommen mit der Fragestellung der Einführung einer EPI aus offizieller Sicht beschäftigt, muss unseres Erachtens zu dem Schluss kommen, dass ihre bisherige Nicht-Einführung nicht am ideologischen Widerwillen der Geldpolitiker oder Regierungen gescheitert ist, sondern an einigen weniger spektakulären, nämlich technischen und konzeptionellen Sachfragen, die in diesem Beitrag skizziert werden.

Bevor wir auf die fachlichen Argumente kommen, wollen wir noch zwei Sachverhalte klarstellen.

(a) Die Inflationskennzahlendefinition (die technische Festlegung wie Inflation gemessen wird) sowie die prozessuale Durchführung der Inflationsmessung liegt in der EU in der Kompetenz der 26 nationalen Statistikbehörden, sowie übergreifend in der der EU-Statistikbehörde Eurostat. Die Inflationskennzahlen werden weder von den nationalen Zentralbanken, noch von der EZB definiert, noch wird die Inflationsmessung von der EZB verantwortet. Die EZB hat kein Weisungsreicht gegenüber Eurostat und kann dementsprechend auf diesem Gebiet von sich aus gar nichts ändern. Das kann nur Eurostat zusammen mit den nationalen Statistikbehörden. Diese sind Teil des Regierungsapparats, nicht Teil der nationalen Zentralbanken oder der EZB.

(b) Der Einfluss einer etwaigen Geldmengenausweitung auf Investment Assets im Allgemeinen und einzelne Asset-Klassen im Speziellen ist mit keiner Methode der Welt in konkreten Zahlenwerten quantifizierbar. Allenfalls kann man rein qualitativ sagen, dass eine Geldmengenausweitung tendenziell zum nominalen Preisanstieg von Investment-Assets beiträgt.

 

Das Pro-Argument für eine EPI

Investment Assets werden von Privathaushalten zur Vermögensbildung und Altersvorsorge erworben – vorwiegend in Gestalt von Immobilien und Aktien oder auf ihnen basierenden Finanzprodukten. Vermögensbildung bzw. Investieren in diesem Sinne ist in der Tat Vorsorge für zukünftigen Konsum. Diese Logik scheint eine Berücksichtigung von API für die Zwecke der Messung der „allgemeinen Inflation“ nahezulegen. Das gilt umso mehr, als Investment Assets wie Immobilien und Aktien auf lange Sicht eine – gemessen an der „klassischen“ VPI – positive Realrendite haben müssen und in den letzten 200 Jahren auch hatten.

Investment Assets wie Aktien, Anleihen oder Immobilien, werden vom Kapitalmarkt so bepreist, dass sie eine positive risikoadäquate „erwartete Rendite“ oberhalb der Konsumgüterinflation haben, also eine positive, reale (VPI-bereinigte) Rendite. (Auf sehr lange Sicht entspricht die erwartete Rendite ungefähr der durchschnittlichen Rendite.)

Beispielsweise beträgt die reale, VPI-bereinigte Rendite der Asset-Klasse Aktien auf lange Sicht, wenn man von einem mittleren, normalen Bewertungsniveau aus startet, rund 5% bis 5,5% per annum. Das ist der Durchschnittswert aus den vergangenen 120 Jahren für 23 Staaten, zu denen Daten hinreichender Qualität vorliegen. Nimmt man nur die letzten rund 60 Jahre, resultiert ein minimal höherer Mittelwert.

Anleihen, Immobilien und anderen Investment-Assets haben jeweils eine eigene erwartete reale Rendite, die zwar unter derjenigen von Aktien, aber ebenfalls deutlich über null liegt.

 

Die sechs wichtigsten fachlichen Probleme einer EPI

(a) Das Time Lag-Problem

Wollte man die Preisveränderungen selbstgenutzter Wohnimmobilien in einer EPI-Kennzahl berücksichtigen, sähe man sich zunächst einmal mit dem Praxisproblems des Time Lags, der Zeitverzögerung, bei der Datenerhebung konfrontiert.

Auf der Basis der heute in den meisten Ländern, auch in Deutschland, vorhandenen „Datensammelinfrastruktur“ stünden die Preisveränderungen von Wohnimmobilien den Statistikbehörden erst viel später zur Verfügung als die Preisveränderungen normaler Konsumgüter. Das ist insofern heikel, als die Inflation so aktuell und zeitnah wie möglich gemessen werden soll – gerade auch für die Zwecke der Geldpolitik der Zentralbanken. Würde man heute versuchen, Immobilienpreise in einer normalen Inflationskennzahl zu berücksichtigen, würde das die Publikationsgeschwindigkeit, also Aktualität der Inflationsmesszahl wohl drastisch verlangsamen.

Um diese praktische Kalamität zu überwinden, müsste staatlicherseits eine Initiative gestartet werden, um die Qualität und Geschwindigkeit der Datenerhebung für Immobilienpreise stark zu verbessern. Wir gehen davon aus, dass das möglich wäre.

Bei anderen Investment Assets wie beispielsweise Aktien besteht dieses Problem naturgemäß nicht.

(b) Das Volatilitätsproblem

Eine EPI-Kennzahl wäre – darüber besteht kein Zweifel – volatiler (schwankungsintensiver) als die gegenwärtige VPI. Hohe Schwankungen von Quartal zu Quartal sind bereits in der herkömmlichen VPI ein technisches Problem, weswegen seit jeher zusätzlich zur „normalen“ VPI die Kerninflation (Core CPI oder Core Inflation) errechnet wird. Die Core CPI ist die normale VPI exklusive der notorisch schwankungsintensiven Warengruppe Energie (Öl, Erdgas).

Da es bei Energiepreisen starke kurzfristige Preisbewegungen nach oben und unten gibt (und diese weltmarktbedingten Bewegungen überwiegend nichts mit der Geldpolitik zu tun haben), macht es Sinn, Energie in Bezug auf Fragen der geldpolitischen Steuerung aus der Inflationsmessung herauszunehmen.

In einer EPI würde jedoch die zuweilen starken kurz- und mittelfristigen Schwankungen von Investment-Assets nach oben und unten das Volatilitätsproblem im Prinzip noch weiter intensivieren.

Im Ergebnis würde es fast unweigerlich zur Nutzung von drei Größen kommen, der konventionellen CPI, der Core CPI (ohne Energiepreise) und der EPI.

(c) Das Problem der Vermischung unterschiedlicher Zeithorizonte

Wenn ein Haushalt ein Investment Asset erwirbt, beispielsweise eine Immobilie oder Aktien, zieht er daraus über viele Jahre hinweg Nutzen – so wie ein Unternehmen, wenn es eine Maschine oder ein Gebäude kauft, den Nutzen daraus über einen mehrjährigen Zeitraum zieht. Das ist ein fundamentaler Unterschied zu einem Konsumgut, bei dem der Nutzen nur kurzfristig besteht, bis es verbraucht ist.

Aus diesem Grund schreiben die Regeln der Rechnungslegung für Unternehmen vor, Investitionsgüter (im Unterschied zu Ausgaben für sofort ganz verbrauchte Inputs) in der Unternehmensbilanz zu „aktivieren“ und sie dann (ungefähr) entlang dem jährlichen Verbrauch „abzuschreiben“. Diese Abschreibung repräsentiert näherungsweise den anteiligen jährlichen Verbrauch in der Gewinn-und-Verlustrechnung des Unternehmens.

Das bedeutet, dass aus statistischer Sicht nur ein kleiner Teil des Kaufpreises eines Investment Assets bei einem Privathaushalt tatsächlichen Konsum im aktuellen Jahr darstellt. Das Ziel der Inflationsmessung soll jedoch die Messung kurzfristiger, aktueller Preisänderungen sein und dem entsprechend müsste man hier so etwas wie das Abschreibungsprinzip bei Unternehmen verwenden.

Das Abschreibungsprinzip würde einerseits die Auswirkung einer Preisveränderung für ein Investment Asset in einer EPI stark abmildern, aber andererseits die Berücksichtigung der Preisveränderung von Investment Assets in der EPI technisch stark verkomplizieren.

(d) Das Problem der paradoxen Implikationen

In der Eurozone beträgt die Quote der Haushalte mit selbstgenutztem Wohneigentum, die Homeownership Ratio (HOR) 68%. Somit besitzt eine deutliche Mehrheit aller Haushalte in der Eurozone eine selbstgenutzte Wohnimmobilie, nur eine Minderheit der Haushalte sind Mieter.

Auch an dieser Stelle ist zunächst eine Anmerkung zur Interpretation der HOR angebracht: Die nationale HOR schwankt in der EU zwischen 95% für Rumänien am oberen Ende und 52% für Deutschland am unteren Ende. Es ist ein verbreiteter Irrtum, dass eine hohe nationale HOR in den 190+ Staaten der Erde ein irgendwie verlässliches Zeichen für nationalen Wohlstand im Sinne eines hohen Bruttoinlandprodukts pro Kopf sei. Tatsächlich haben „arme“ Länder tendenziell höhere HORs als reichere Länder. In Europa hat der reichste Flächenstaat, die Schweiz, mit 43% die niedrigste HOR.

Zurück zum eigentlichen Thema: Wenn nun die Preise von Wohnimmobilien in einem bestimmten Zeitraum stärker steigen als die Güter im VPI-Warenkorb, dann erzeugt diese Preiserhöhung eine Erhöhung der Kaufkraft der betreffenden Eigentümerhaushalte. Sie könnten und können sich nun mehr VPI-Warenkorbgüter, einschließlich mehr Wohnnutzen, kaufen, denn Mieten steigen in einer breiten starken Aufwärtsbewegung von Immobilienkaufpreisen regelmäßig merklich weniger als Kaufpreise.

Dieser Effekt ist insofern paradox als damit der Grundcharakter der Inflationskennzahl – so wie sie heute in der Bevölkerung zu Recht wahrgenommen und verstanden wird – umgekehrt und in gewisser Weise verdreht wird. Inflation wird von der Bevölkerung als etwas Negatives wahrgenommen, da sie die Kaufkraft des vorhandenen Geldvermögens und des künftigen Gehaltseinkommens der Gesamtbevölkerung verschlechtert. Hauspreisinflation tut letztlich das Gegenteil. In der Eurozone erhöht Hauspreisinflation die Kaufkraft von 68% der Haushalte und senkt sie nur bei den restlichen 32%. Das bedeutet eine Verbesserung auf der Ebene der Gesamtbevölkerung. Da die HOR in der Eurozone knapp 70% beträgt und weltweit in dieser Größenordnung oder darüber liegen dürfte sowie die meisten Regierungen der Welt eine weitere Erhöhung der HOR anstreben (wenn auch oft erfolglos), kann man insgesamt schlussfolgern, dass das besagte Paradoxon praktisch überall gilt: Immobilienpreisinflation beeinflusst die Kaufkraft der Gesamtbevölkerung per Saldo positiv.

Dass Immobilienpreisinflation unter sonst gleichen Umständen zur vermögensmäßigen Ungleichheit in der Gesamtbevölkerung beiträgt, ist richtig, aber unseres Erachtens kann es nicht Sinn und Zweck der Geldpolitik einer Zentralbank sein, Ungleichheit in der Vermögensverteilung zu bekämpfen. Das ist die alleinige Aufgabe der Regierungen, nicht der Zentralbanken. Überdies stehen dem Staat für eine Regulierung der wirtschaftlichen Ungleichheit auch ohne die Geldpolitik ausreichend Mittel und Wege zur Verfügung. Diese werden hier aus Platzgründen nicht weiter diskutiert.

(e) Das Problem der fehlenden Aussagekraft reiner Asset-Preis-Veränderungen

Die Preiswürdigkeit bzw. die Erschwinglichkeit von Investment Assets wie Immobilien und Aktien an ihrem absoluten Kaufpreisniveau (oder Indexniveau bei Aktienindizes) oder an der Veränderung des absoluten Kaufpreises im Zeitablauf zu messen, ist – anders als bei Konsumgütern – prinzipiell falsch.

Das lässt sich leicht zeigen. Eine Immobilie, die 500.000 Euro kostet, kann „billiger“ sein als eine die 300.000 Euro kostet. Diese Logik trifft ebenso auf Aktien und andere Investment-Assets zu, die Cash-Flow (Zahlungsströme) produzieren.

Die Frage, ob ein Investment Asset teuer oder billig ist, in einem bestimmten Zeitraum teurer oder billiger geworden ist, hängt nicht von seinem absoluten Preisniveau oder dessen Veränderung ab, sondern von seiner Bewertung. Preis und Bewertung sind zweierlei. Wenn eine Aktie in einem Kalenderjahr im Kurs um 1% steigt (in naiver Interpretation fand hier also Asset Inflation statt), der Unternehmensgewinn jedoch um 5% zunahm, dann ist diese Aktie billiger geworden, nicht teurer. Analoges gilt für Immobilien relativ zu den Nettomieten, dem „Gewinn“ bei Immobilien.

Inflation im üblichen Sinne des Wortes ist ein Synonym für „teurer werden“. Gegen diese Interpretation ist nichts einzuwenden – sie ist richtig. Ein Investment Asset (anders als ein Konsumgut) kann aber nur tatsächlich teurer werden, wenn seine Bewertung nach oben geht. Steigende Kaufpreise für Assets sind jedoch gerade keine Bewertungsindikatoren (die Details hierzu haben wir anhand des Aktienmarktes hier gezeigt).

Wer dieser Logik folgt, kann API jedenfalls nicht in Gestalt steigender Asset Preise messen, doch genau das schlagen die Befürworter einer EPI für gewöhnlich vor. Würde man innerhalb einer EPI Bewertungskennzahlen, statt bloße Preise verwenden, hätte das in der Praxis jedoch vermutlich enorme Komplexitätsfolgen.

(f) Das Problem der historischen und internationalen Vergleichbarkeit

Eine EPI wäre länderübergreifend vermutlich wenig vergleichbar, da kaum gewährleistet ist, dass alle der über 190 Staaten der Erde die API hinreichend gleichartig messen und in die EPI einbauen würden. In ähnlicher Weise würde eine EPI wohl auch keine langfristigen historischen Vergleiche zulassen, weil sie nur einige wenige Jahrzehnte rückwärts ermittelbar wäre.

Da aber für solche länderübergreifenden oder historischen Vergleiche weiterhin die VPI zur Verfügung stünde, dürfte dieses Argument nur begrenzte Relevanz besitzen.

Alles in allem können wir schlussfolgern, dass die Einführung einer wie auch immer gearteten EPI zwar eine Vielzahl technischer Schwierigkeiten und konzeptioneller Ambivalenzen mit sich brächte, diese aber mit gutem Willen überwunden werden könnten.

 

Würde eine EPI-Kennzahl in der Praxis der EZB-Geldpolitik überhaupt etwas ändern?

Diese Frage lässt sich unseres Erachtens aus jetziger Sicht nicht beantworten. Das könnte nur die praktische Erfahrung nach der Einführung einer EPI zeigen.

Es ist davon auszugehen, dass Zentralbanken wie auch Politik und Bevölkerung, (a) sich schnell an eine höhere und stärker schwankende EPI gewöhnen würden und (b) sich die parallele Verwendung mehrerer Inflationskennzahlen in der Geldpolitik und der öffentlichen Diskussion einbürgern würde, z. B. die alte VPI, die Kern-VPI und die neue EPI.

Im Übrigen besteht seit Einführung des Sozialstaates zu Beginn des 20. Jahrhundert eines der Hauptziele der Wirtschaftspolitik und Steuerpolitik in der ökonomischen Umverteilung. Vor diesem Hintergrund könnte man argumentieren, dass es nicht Aufgabe der Zentralbank und damit der Geldpolitik sein kann, sozialpolitische Gleichheitsziele zu verfolgen, weil das eine Kernaufgabe der gewählten Regierung ist. Die Regierung besitzt grundsätzlich eine Vielzahl von Instrumenten zur Verfolgung und Erreichung dieser Ziele. Wer von der Zentralbank fordert, sie solle in der Sozialpolitik mitwirken, könnte damit die Unabhängigkeit und Qualität der Geldpolitik überfrachten und gefährden.

 

Fazit

Die Entwicklung einer wie auch immer aufgebauten EPI-Kennzahl wäre prinzipiell möglich, erfordert aber die Überwindung einer beachtlichen Zahl praktischer Hürden und konzeptioneller Fragezeichen. Diese werden von den Befürwortern einer EPI nach unserem Eindruck unterschätzt und zuweilen unter den Tisch gekehrt.

Dass eine EPI in den über 190 Staaten der Welt, trotz einer schon 70 Jahre währenden wissenschaftlichen Fachdiskussion, bisher nicht eingeführt wurde, liegt nach unserem Eindruck nicht am bösen Willen von Regierungen und Zentralbanken.

Aktuell sieht es so aus, als ob die EU die Einführung einer EPI, die Wohnimmobilienpreise beinhaltet, ernsthaft prüft.

Warmmieten sind bereits bisher mit einem Gewicht um 30% in den nationalen VPI-Kennzahlen enthalten (weniger in der „HVPI“ der EU).

Ob eine EPI an der Geldpolitik der entsprechenden Zentralbanken nennenswerte Änderungen nach sich ziehen würde, ist unklar.

Es ist unseres Erachtens offen, inwieweit man der Geldpolitik der Zentralbanken ein sozialpolitisches Mandat (z. B. „Beitrag zur Verhinderung der Zunahme der ökonomischen Ungleichheit“) auferlegen sollte. Sozialpolitik sollte eher, so wie in der Vergangenheit, eine Aufgabe der Regierungen sein, nicht der Zentralbank.

 

Literatur

Alchian, Armen/Benjamin Klein (1953): „On a Correct Measure of Inflation“; In: Journal of Money, Credit and Banking, 1973, Vol. 5, issue 1, pp. 173-91

Goodhart, Charles (2001): „What Weight Should be Given to Asset Prices in the Measurement of Inflation?“ In: The Economic Journal; Vol. 111, No. 472, June, 2001, pp. F335-F356

Israel, Karl-Friedrich/Günther Schnabl (2020): „Alternative Measures of Price Inflation and the Perception of Real Income in Germany“; CESifo Working Papers, No. 8583; September 2020

Siedenbiedel, Christian (2020): „Der Inflation fehlen die Immobilienpreise“; 08.03.2020; In: FAZ.net (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

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