Von Alexander Weis und Gerd Kommer
Wer sich überlegt, heute, in zehn oder auch erst in 20 Jahren seinen Ruhestand anzutreten, aber nicht Bill Gates, Jeff Bezos oder Elon Musk heißt, der wird sich die Frage stellen, ob sein Vermögen ausreichend sein wird, um den gewünschten Lebensstandard bis zum Lebensende aufrechtzuerhalten.
Das übliche Verfahren, um diese Frage zu beantworten, besteht darin, bei gegebenem Vermögen eine Portfoliorendite und „Portfolioentnahmerate“ zu unterstellen und dabei anzunehmen, dass beide Variablen jedes Jahr unverändert bis zum Ende des Betrachtungszeitraums (der typischerweise mit der geschätzten Restlebenserwartung zusammenfällt) eintreten werden.
(À propos Restlebenswerwartung: Im Internet sind zahlreiche Rechner zur Kalkulation der Restlebenserwartung verfügbar, z. B. dieser hier. Sie liefern die „mittlere“ Restlebenserwartung, auch Median-Restlebenserwartung genannt. Nach ihr wird die betreffende Person in 50% aller Fälle länger leben – und in 50% der Fälle weniger lang. Um jedoch für die Zwecke einer Monte-Carlo-Simulation kalkulatorisch auf der sicheren Seite zu sein, sollte man der mittleren Restlebenserwartung noch drei bis fünf Jahre hinzufügen. Dann besteht statistisch nur noch eine 10%-Wahrscheinlichkeit, dass man länger lebt.)
Zurück zur Berechnung der Portfolioentnahmerate: Die hierzu üblichen Kalkulationen kann man recht einfach auf verschiedenen Finanzportalen oder mit einem Tabellenkalkulationsprogramm anstellen. Es handelt sich dabei in der Regel um lineare, „deterministische“ Berechnungen; so genannte „Punktschätzungen“. Solche Schätzungen sind zwar besser als gar keine Berechnung, besitzen dennoch nur begrenzten Erkenntniswert. Begrenzt deswegen, weil sie den ganz fundamentalen Aspekt der Unsicherheit zukünftiger Renditen völlig außer Acht lassen: Die Unsicherheit der Zukunft. Solche Punktschätzungen unterstellen realitätsfremd, dass der Weg in die Zukunft ein einfacher, linearer Pfad ist.
Bei linearen Kalkulationsverfahren wird also ausgeblendet, dass Portfolio-Renditen in die Zukunft gerichtet um einen Mittelwert herum schwanken und diese Schwankungen für einzelne Jahre nicht zuverlässig prognostiziert werden können. Dieser Geburtsfehler der üblichen linearen Methode lässt sich in geringem Umfang – aber eben nicht wirklich – heilen, indem man beispielsweise unterschiedlich optimistische und pessimistische Punktschätzungen anstellt.
Will man Fragen wie „reicht mein Vermögen?“ oder „wieviel Entnahme pro Monat kann ich mir leisten?“ oder „wann frühestens kann ich aufhören zu arbeiten?“ für einen langen Zeitraum aussagekräftiger als mit Punktschätzungen beantworten, muss man zu einer anspruchsvolleren Prognosetechnik übergehen, zur Monte-Carlo-Simulation.
Bei einer Monte-Carlo-Simulation („MCS“) wird ein simpler mathematischer Algorithmus zur Lösungsfindung einer stochastischen (wahrscheinlichkeitsmathematischen) Problemstellung eingesetzt.
MCS als Simulations- und Vorhersage-Technik wurde während des Zweiten Weltkries von den berühmten Mathematikern Stanislaw Ulam und John von Neumann im Rahmen eines Nuklearwaffenprojekts im Los Alamos Scientific Laboratory in den USA entwickelt. Aufgrund der Geheimhaltungspflicht des Projekts war ein Codename für das neue Verfahren erforderlich. Die beiden wählten „Monte-Carlo-Simulation“, weil Ulams reicher Onkel gelegentlich im Monte-Carlo-Casino in Monaco dem Glücksspiel frönte. MCS wird heutzutage in praktisch allen naturwissenschaftlichen Disziplinen wie der Biologie, der Chemie, der Mathematik und der Physik eingesetzt; sie ist also keine neue Methode und keine, die nur in der Finanzökonomie für Prognosen (eigentlich eher Simulationen) verwendet wird.
In dem für unsere Zwecke relevanten Investment-Kontext werden bei einer MCS auf der Basis von Annahmen über die erwartete Rendite und Volatilität (Unsicherheit der Rendite) eines Portfolios, die Restlebenserwartung des Anlegers sowie seine periodischen Portfolio-Zuführungen und -entnahmen von einem Computer einige hunderte oder tausende mögliche unterschiedliche Fälle, so genannte „Iterationen“, erzeugt (eine Iteration oder ein „Fall“ oder ist eine einzelne Prognose). Der Computer sortiert dann die resultierenden Fälle vom besten bis zum schlechtesten Fall und bereitet diesen „Blumenstrauß“ aus Iterationen mit einfachen statistischen Kennzahlen in tabellarischer und grafischer Form für den Anwender auf. Der Anwender kann dann auf der Basis dieser Ergebnisse wichtige Entscheidungen treffen.
Die Mindestanzahl der notwendigen Iterationen, die benötigt wird, um zu einem belastbaren Ergebnis zu gelangen, hängt davon ab, was man simulieren möchte. Für die im Vergleich zur Lösung bestimmter Probleme in der Biologie oder Physik einfachen Zwecke der Simulation eines Investmentportfolios werden 1.000 bis 10.000 Iterationen pro Simulation in der Regel als ausreichend betrachtet.
Technisch formuliert hilft MCS dabei, dass so genannte Renditereihenfolgerisiko („Sequence of Returns Risk“) besser zu verstehen und zu managen. Renditereihenfolgerisiko bedeutet, dass die spezifische Reihenfolge von schwankenden Monats- oder Jahresrenditen während des Betrachtungszeitraums eine hohe Auswirkung auf die Gesamtrendite und damit auch auf den Endwert des Portfolios hat, wenn dem Portfolio im Zeitablauf Mittel zugeführt oder entnommen werden. (Nur bei einem Portfolio, das im Betrachtungszeitraum keinerlei Zu- oder Abführungen erlebt, spielt das Sequence of Returns Risk keine Rolle, aber die völlige Abwesenheit von Zu- oder Abführungen kommt im typischen Kontext für MCS sowieso nie vor, denn es geht ja gerade um die Bestimmung einer nachhaltigen Entnahmerate.)
MCS kann methodisch auf verschiedene Arten durchgeführt werden. Bei der am meisten verbreiteten Methode werden eine durchschnittliche Jahresrendite und eine Volatilität dieser Renditen angenommen. Auf der Basis einer unterstellten statistischen Normalverteilung der zukünftigen Renditen werden vom Computer tausende von Iterationen (Einzelprognosen) berechnet. Dieses Standardverfahren könnte man als „klassische“ MCS bezeichnen.
Eine andere Methode besteht darin, historische Portfoliorenditen zu verwenden (z. B. die letzten 50 Jahre), um daraus einzelne Periodenrenditen wie aus einer Urne zufällig zu ziehen und aneinanderzureihen (nach dem Ziehen wird die Rendite wieder in die Urne zurückgelegt). Das wird dann wiederum vom Computer Tausendmal wiederholt. Dieses Verfahren nennt sich „Bootstrapping with Replacement“. Es ist weniger verbreitet, aus unserer Sicht aber genauso relevant wie die klassische MCS.
Bei den zwei vorhergehenden Methoden wird in der Simulation eine zufällige Abfolge der periodischen Portfoliorenditen angenommen.
Bei einer dritten Methode werden hingegen komplette historische Renditereihenfolgen verwendet (z. B. die Renditen der Jahre 1970 bis zur Gegenwart in derselben Reihenfolge, wie sie historisch aufgetreten sind). Das Simulationselement bei diesem Verfahren besteht darin, den Startzeitpunkt zufällig zu wählen, was dann vom Computer wieder einige hunderte oder tausende Male wiederholt wird. Diese Methode auf der Basis historischer Renditeverläufe liefert im Vergleich zu den anderen beiden Methoden interessante, da abweichende Ergebnisse, weil sie die in den Daten vorhandene (schwache) „Regression zum Mittelwert“ nicht eliminiert. Diese alternative MCS-Methode kann als sinnvolle Ergänzung zu den anderen Methoden angesehen und eingesetzt werden.
Gelegentlich ist zu hören, dass die Annahme einer Normalverteilung von Wertpapierrenditen eine zu optimistische Abbildung der Realität an den Kapitalmärkten sei. Allerdings führt ein Abrücken von der Normalverteilungsannahme bei MCS, wie hier beschrieben, in der Praxis nur zu geringfügig anderen Ergebnissen, bei zugleich deutlich mehr Komplexität und Aufwand in der Durchführung.
Kurioserweise wird in der Literatur zugleich argumentiert – im Widerspruch zur vorgenannten Kritik –, dass MCS nach der klassischen Methode im Vergleich zu Methoden auf der Basis historischer Periodenrenditen zu pessimistische Ergebnisse produziere (Tharp, 2017). Es ist also offen, ob die klassische Methode zu optimistisch oder zu pessimistisch ist. Für eine endgültige Klärung dieser Frage bräuchte man weit, weit längere historische Datenreihen als wir sie haben; vermutlich mehr als 1.000 Jahre an Kapitalmarktrenditen statt lediglich 30 bis 120 Jahre (je nach Land), wie tatsächlich der Fall.
Unabhängig von der gewählten Methode gilt: In die Zukunft gerichtet ist die Entwicklung von Vermögensanlagen unsicher und je länger der Prognosezeitraum, desto größer die Streubreite der möglichen Endvermögenswerte. Bei einer MCS wird versucht, diese Unsicherheit für Erkenntniszwecke des Anlegers zu modellieren. Die Berücksichtigung der Unsicherheit künftiger Renditen, insbesondere ihrer zeitlichen Abfolge, unterscheidet MCS fundamental von den eingangs erwähnten linearen Portfolioentwicklungsberechnungen, die keine Unsicherheit miteinbeziehen und deshalb für die Beantwortung der hier relevanten Anlegerfragen nur sehr eingeschränkt geeignet sind.
So viel zur Theorie. Nun aber zur Praxis, das heißt zu konkreten Konstellationen, in denen MCS sinnvoll eingesetzt werden kann.
MCS kann dafür verwendet werden zu beurteilen, wie wahrscheinlich es ist, dass das Vermögen eines Haushalts bei einem gegebenen Lebensstandard (Einkommen abzüglich Ausgaben) für einen bestimmten Zeitraum ausreicht. MCS kann jedoch auch schon zu einem viel früheren Zeitpunkt Einsatz finden, nämlich um herauszufinden, wie lange und wieviel ein Haushalt noch sparen muss, bis er sich zur Ruhe setzen kann. Hierzu werden im Grunde genommen und hier etwas vereinfacht zwei zeitliche Phasen des zugrundeliegenden Portfolios in der Simulation abgebildet: Eine Sparphase (Vermögensaufbau) und eine Entnahmephase (Vermögensverwendung). In der Sparphase bildet der Anlegerhaushalt Vermögen, das heißt die Portfoliozuführungen übersteigen die -entnahmen; in der Entnahmephase konsumiert der Haushalt das angesparte Vermögen ganz oder teilweise, das heißt die Portfolioentnahmen übersteigen die -zuführungen.
Führt man eine MCS lange bevor man in den Ruhestand eintreten möchte durch, lassen sich daraus besonders nützliche Erkenntnisse und Schlussfolgerungen für die Gegenwart ableiten. Besonders nützlich, weil dann nämlich noch Zeit dafür ist, auf der Basis der MCS-Ergebnisse in der Gegenwart grundlegende Weichenstellungen vorzunehmen, also z. B. mehr zu sparen, weniger auszugeben oder länger zu arbeiten. Zehn oder 20 Jahre später kämen solche Anpassungen vielleicht zu spät.
Allgemein formuliert bietet MCS einen zusätzlichen Plausibilitäts-Check für die fundamentale ökonomische Frage, die sich jeder Haushalt stellen sollte: „Ist mein Langfristplan einigermaßen realistisch und durchführbar?“ Falls sich aus einer MCS ergibt, dass die Antwort auf diese Frage kein Ja verbunden mit einem einigermaßen guten Gefühl ist, kann man sich noch einmal hinsetzen und seinen Plan modifizieren – und zwar viele Jahre bevor die Dinge tatsächlich anbrennen und nicht wiedergutgemacht werden können.
Wie geht man bei der Durchführung einer MCS vor? Zunächst bestimmt man die Eingabegrößen: (a) Die Höhe des vorhandenen Vermögens, (b) die monatliche Spar- bzw. Entnahmerate, (c) den Betrachtungshorizont (häufig ist das die geschätzte Restlebenserwartung) und (d) die erwartete Portfolio-Rendite und -volatilität. Das MCS-Computer-Programm berechnet dafür dann z. B. 1.000 oder 10.000 mögliche Fälle.
In der folgenden Tabelle haben wir die Ergebnisse einer beispielhaften Testsimulation für den Haushalt Meierhofer zu Illustrationszwecken dargestellt. Das Ehepaar Hans und Anna Meierhofer sind beide 50 und planen in zehn Jahren zeitgleich mit 60 Jahren in Rente zu gehen; die Ansparphase dauert also noch eine Dekade. Danach soll das angesparte Vermögen 30 Jahre ausreichen. Die detaillierte Beschreibung der Input-Variablen befindet sich unterhalb der Tabelle.
Tabelle: Die Ergebnisse einer Monte-Carlo-Simulation auf Basis einer Normalverteilung für den Beispielfall des Haushalts Meierhofer
► Quelle: Eigene Berechnungen mithilfe des MCS-Tools der Gerd Kommer Invest GmbH. ► Alle Zahlen real (inflationsbereinigt) und in EUR; da realen Renditen gerechnet wurde, sind weder eine Schätzung der Inflation noch eine Anpassung der Spar- und Entnahmeraten an die Inflation notwendig. ► Zugrundeliegende Annahmen: Der Haushalt investiert die nächsten zehn Jahre lang jährlich 50.000 EUR in sein Portfolio und entnimmt daraus dann 30 Jahre lang jährlich 50.000 EUR; das Anfangsvermögen des Haushalts beträgt 1.000.000 EUR; die arithmetische (reale/inflationsbereinigte) Portfoliorendite beträgt 2,9% p.a. (nach Kosten und Steuern) und die Standardabweichung der Jahresrenditen liegt bei 12,2%. ► Spalte 1: Alter des Haushalts; ► Spalte 2: Kumulative Einzahlungen des Haushalts in das Portfolio; ► Spalte 3/4/6: 10./50./90. „Perzentile“ der Haushaltsvermögen; ► Spalte 5: Arithmetischer Durchschnitt des Haushaltsvermögens (Endvermögen); ► Spalte 7: Standardabweichung des Endvermögens; ► Spalte 8: „Success Rate“ des Portfolios, d. h. der prozentuale Anteil der Fälle, in denen das Haushaltsvermögens bis zum Ende der vorgegebenen Betrachtungsperiode reicht („Portfolioüberlebenswahrscheinlichkeit“).
Zur Interpretation der Tabelle: In unserem Beispiel des Haushalts Meierhofer wurden insgesamt 1.500.000 EUR in das Portfolio einbezahlt (Spalte 2). In den schlechtesten 10% der Fälle hätte das Portfolio nicht bis zum Lebensalter von 85 Jahren gereicht (Spalte 3). In 50% der Fälle wäre das Portfolio des Haushalts am Ende des Zeitraums noch über 1.240.000 EUR wert gewesen (Spalte 4). In den besten 10% der Fälle wäre das Portfolio am Ende des Zeitraums auf mehr als 5.260.000 EUR angewachsen (Spalte 6). Das Vermögen hat in 18% (100% – 82%) der Fälle nicht bis zum 90. Lebensjahr des Haushalts ausgereicht (Spalte 8).
Insgesamt kann das Ergebnis in diesem Beispiel als nicht zufriedenstellend bezeichnet werden, weil das Portfolio in 18% der Fälle nicht bis zum 90. Lebensjahr reicht. Diese „Failure Rate“ dürfte für manche Haushalte intolerierbar hoch sein. Bei einem solchen Ergebnis muss sich der Haushalt überlegen, wie er seinen Plan ändern möchte. Denkbar wäre eine Erhöhung der Sparquote (also eine Senkung des Lebensstandards jetzt), eine Verschiebung des Ruhestandsdatums auf einen späteren Zeitpunkt, eine Absenkung der Entnahmebetrags im Ruhestand oder eine irgendwie geartete Kombination aus diesen drei und eventuell anderen möglichen Maßnahmen.
Wäre eine Erhöhung der Aktienquote im Portfolio (also eine Erhöhung der erwarteten Rendite) eine Lösung für die Meierhofers? Nicht unbedingt. Ein häufig beobachtetes Phänomen bei MCS in Bezug auf die Variierung der Asset-Allokation lautet wie folgt: Je „aggressiver“, also aktienlastiger, die gewählte Asset-Allokation, desto besser werden die mittleren und guten Fälle und desto schlechter werden die rund 10% bis 30% der schlechtesten Fälle. Anders formuliert: Die guten Fälle werden in dem Maße wie die Aktienquote zu Lasten der Anleihequote steigt noch besser und die schlechten Fälle noch schlechter. Umgekehrt wirkt eine Bewegung in Richtung konservativere, also anleihenlastigere, Asset-Allokation. Hier kommt wieder einmal das berühmte Grundgesetz der Ökonomie zum Ausdruck: „There is no free lunch“.
Kommen wir zu einer zusammenfassenden Einschätzung des MCS-Verfahrens und dessen, was es leisten kann und was es nicht leisten kann:
- MCS übt einen positiven Zwang auf den Anleger aus, sich mit der in der Realität immer vorhanden Unsicherheit über die wertmäßige Entwicklung eines Portfolios in der Zukunft auseinanderzusetzen. Der Anleger bekommt damit ein besseres Gefühl für die Wahrscheinlichkeiten verschiedener Ergebnisse als das bei deterministischen Rendite- und Endvermögensberechnungen der Fall ist.
- Durch Variieren von Inputs und Annahmen, die einer MCS zugrunde liegen, wird für den Anleger – besser als bei der deterministischen Methode – erkennbar, was die wichtigsten Stellhebel für die langfristige Vermögensbildung sind und wie „non-linear“ diese Stellhebel oftmals wirken. Dadurch kann MCS dabei helfen – und das dürfte ihr größter Nutzen sein – Weichenstellungen (z. B. Reduktion der monatlichen Portfolioentnahmen) dann vorzunehmen, wenn es dafür noch nicht zu spät ist.
- Die Konfrontation mit der oft erstaunlich großen Unsicherheit (z. B. der Streuung der Endvermögenswerte) über Zeiträume von 20 bis 50 Jahren verursacht bei manchen Privatanlegern Unbehagen, weil sie es nicht gewohnt sind, probabilistische Betrachtungen anzustellen, also z. B. Streubreiten von Endvermögenswerten oder Portfolio-Überlebenswahrscheinlichkeit zu interpretieren.
- Mit marktüblichen MCS-Anwendungen können jährliche Entnahmen, die im Zeitablauf zeitweilig aus Vorsichtsgründen reduziert werden (z. B. als Reaktion auf Markteinbruch), nicht modelliert werden. Soweit Anleger bereit sind, in schlechten Marktjahren ihre Entnahmen vorübergehend abzusenken (eine unseres Erachtens realistische Annahme), sind die Ergebnisse einer MCS zu pessimistisch.
In Ratgeberbüchern und auf Finanzportalen ist häufig zu lesen, eine „4%-Entnahme-Rate“ sei „machbar“, „nachhaltig“ oder „eine gute Faustformel“. Die 4%-Zahl stammt aus einer vom wissenschaftlichen Fortschritt inzwischen überholten Interpretation der historisch ersten akademischen Untersuchung zum Thema „nachhaltige Entnahmerate“ („save withdrawal rate“). 1994, also vor inzwischen 24 Jahren, veröffentlichte der US-Ökonom William Bengen hierzu die erste systematische Studie (Bengen, 1994). Daraus abgeleitet verbreitete sich in den Jahren danach in der Finanzbranche und in der Ratgeberliteratur die so genannte „4%-Regel“. Gemäß dieser Regel könne man aus einem 50/50-Aktien-Anleihen-Portfolio jährlich 4% des Anfangswerts in Geldeinheiten plus Inflation entnehmen, ohne Gefahr zu laufen, das Portfolio jemals ganz aufzubrauchen. Das entspricht einer 100%-Portfolioüberlebenswahrscheinlichkeit und einer 0%-Failure-Rate. Die 4%-Regel ist aus heutiger Sicht klar überoptimistisch (Pfau, 2017). Vor ihrer unkritischen Übertragung auf die eigenen Verhältnisse kann nur gewarnt werden. Aus Platzmangel können wir hier jedoch nicht auf die vielfältigen Gründe für den mangelnden Realismus der 4%-Zahl eingehen.
Zusammenfassend können wir festhalten, dass Monte-Carlo-Simulation ein sehr nützliches Tool ist, wenn es darum geht, ruhestandsbezogene Fragen wie „wieviel muss ich sparen?“, „reicht mein Vermögen?“, „wie bald kann ich meine Berufstätigkeit beenden?“ oder „wieviel Entnahme pro Monat kann ich mir leisten?“ zu beantworten. Hierbei ist MCS vielen anderen Prognosemethoden überlegen, insbesondere dem in der Finanzbranche üblichen Standardverfahren der einfachen Punktschätzung.
Literatur
Bengen, William (1994). „Determining Withdrawal Rates Using Historical Data“; Journal of Financial Planning: Oct. 1994; 14–24
Pfau, Wade (2017): „How Much Can I Spend in Retirement? A Guide to Investment-Based Retirement Income Strategies“; McLean Asset Management Corporation; 1. Edition
Tharp, Derek (2017): „Does Monte Carlo Analysis Actually Overstate Tail Risk in Retirement Projections?“; Internet-Fundstelle: https://www.kitces.com/blog/monte-carlo-analysis-risk-fat-tails-vs-safe-withdrawal-rates-rolling-historical-returns/ (letzter Aufruf am 19.09).