Von Gerd Kommer und Marcel Lauterwasser
Die Welt der Vermögensanlage hat vermutlich mehr Märchen hervorgebracht als die Grimm-Brüder in fünf Jahrzehnten zu zweit einsammeln konnten. Eines dieser Märchen besteht in der von Immobiliendienstleistern und Finanzjournalisten seit Jahrzehnten verbreiteten „Theorie“, dass Inflation gut sei für Kreditnehmer, weil diese den realen Wert von Schulden „weginflationiere“. Diese „Theorie“ kommt in den folgenden Zitaten zum Ausdruck:
„Inflation nützt Schuldnern und schadet Gläubigern. Denn mit der Geldentwertung schrumpft auch der reale Wert von Forderungen.“ — Wirtschaftswoche
„Kreditnehmer profitieren von einer hohen Inflation. Wenn der Geldwert abnimmt, sinkt automatisch auch die Schuldenlast.“ — Der Berliner Immobiliendienstleister Wohnglück auf seiner Website
„Als Immobilienkreditnehmer profitiert man von einer steigenden und nachhaltigen Inflation, da der reale Wert der Schulden sinkt.“ — Der Immobilienkreditvermittler Dr. Klein Privatkunden AG auf seiner Website
„Wenn eine Inflationsrate von 5% vier Jahre anhält, dann wird ein Fünftel bis ein Viertel Ihres Immobilienkredites ‚magisch‘ verschwinden.“ — Der neuseeländische Immobiliendienstleister OneRoof auf seiner Website
„Bei einer erhöhten Inflation wird die Kreditfinanzierung zum Vorteil des Kreditnehmers verwässert, weil die zurückzuzahlende Darlehensvaluta stärker an Wert verliert als bei normaler Inflation.“ — Aus dem Ratgeberbuch „Praxisleitfaden Immobilienanschaffung und Immobilienfinanzierung“
Die Fakten sehen anders aus.
Für die Mehrheit aller Kreditnehmer ergibt sich aus der Inflation während der Laufzeit ihres Darlehens weder ein nennenswert positiver noch ein nennenswert negativer Effekt. Für eine Minderheit hat Inflation mit etwa gleicher Wahrscheinlichkeit eine finanziell vorteilhafte oder eine nachteilige Wirkung.
Märchenstunde in der Immobilienbranche
Warum das Inflation-ist-gut-für-Kreditnehmer-Märchen aus der Immobilienbranche und den Medien falsch ist, erläutern wir nachfolgend anhand ökonomischer Sachlogik und historischer Daten.
Die Hauptursache für den geringen Wahrheitsgehalt in der Märchenstunde lässt sich so zusammenfassen: Zu jedem gegebenen Zeitpunkt ist die für die Zukunft – die nächsten zwölf Monate oder die nächsten 20 Jahre – vom Markt erwartete Inflation bereits in den Zinssätzen von Immobilienkrediten (und Anleihen) eingepreist. Soweit die künftige Inflation in den Aufwandszinsen eingepreist ist, kann sie – ob hoch oder niedrig – keinen wirklichen Weginflationierungseffekt haben, weil der negative Effekt bei den zu zahlenden Zinsen und der positive Effekt bei der Weginflationierung des Saldos, auf den diese Zinsen im Zeitablauf anfallen, sich gegenseitig aufheben.
Die vom Kapitalmarkt für die Zukunft erwartete und damit in den Aufwandszinssätzen und Ertragszinssätzen bereits eingepreiste Inflation kann man einfach aus der Differenz zwischen den Umlaufrenditen konventioneller Staatsanleihen und inflationsgeschützter Staatsanleihen ableiten – für jeden beliebigen Zeitraum in den nächsten rund 30 Jahren. Die Hintergründe dazu haben wir in diesem YouTube-Video und diesem erläutert.
Zwar kann sich die vom Markt ex ante geschätzte, in den Zinsen eingepreiste Inflation für ein einzelnes Jahr oder einen längeren einzelnen Zeitraum später als zu hoch oder zu niedrig herausstellen, aber die Marktschätzung ist nicht systematisch zu hoch oder zu niedrig. Sie ist im langfristigen Mittel erstaunlich korrekt – siehe dazu dieses YouTube-Video.
Unter Ökonomen gehört die Einpreisung marktmäßiger Inflationserwartungen in die Nominalzinsen von Krediten oder Anleihen zum Kanon der unstrittigen Basiserkenntnisse der Finanzmarktforschung.
Wenn die erwartete künftige Inflation – ob hoch oder niedrig – also bereits in den Marktzinsen enthalten ist und diese Schätzungen im Mittel symmetrisch um die später realisierten Ist-Inflationsraten herumpendeln, werden auf lange Sicht kollektiv weder Kreditschuldner noch Anleiheinvestoren von der Inflation profitieren. Der Vorteil bei der Tilgung des fixierten Kredites aus Einkommen, das jedes Jahr um die Inflationsrate steigt, steht dem Nachteil gegenüber, dass die Kreditzinsen genau um diese Inflationsrate höher sind als in einer Welt ohne Inflation. Aufs Ganze und langfristig betrachtet ist die ökonomische Essenz auf der Ebene alle Kreditgeber und Kreditnehmer so, als ob es gar keine Inflation geben würde.
Man braucht zum Durchdringen dieses Sachverhaltes kein studierter Finanzökonom mit Spezialwissen zum Thema Inflationserwartungen des Marktes sein – ein bisschen gesunder Menschenverstand tut’s auch schon.
Wenn es wahr wäre, dass Kreditnehmer systematisch von Inflation profitierten, dann müsste es ja ebenfalls wahr sein, dass Kreditgeber systematisch von Inflation geschädigt würden. Kreditgeber in einer Volkswirtschaft sind primär Banken und institutionelle Anleger wie Versicherungen und Investmentfonds, die in Kredite oder Anleihen investieren. Dass diese professionellen Marktteilnehmer sich weltweit und dauerhaft von ihren Schuldnern über den Tisch ziehen lassen – diese Vorstellung erscheint absurd.
Ein Blick auf historische Daten macht die hier wirkende ökonomische Logik sichtbar. Die folgende Abbildung zeigt die Entwicklung der Immobilienkreditzinsen und der Inflation in Deutschland in den gut 53 Jahren von Januar 1970 bis März 2023.
Abbildung: Immobilienkreditzinsätze und Inflation (VPI) in Deutschland von Januar 1970 bis März 2023
► Zinsen: Deutsche Immobilienkreditzinsen mit zehnjähriger Zinsbindung. ► Inflation = Verbraucherpreisinflation. ► Um die Kurvenverläufe zu glätten und so die Grundtendenzen visuell stärker hervortreten zu lassen, wird für beide Größen der gleitende Durchschnitt aus den vorhergehenden 36 Monatswerten dargestellt. ► Daten: Bundesbank
Die Grafik lässt erkennen, dass sich Immobilienkreditzinsen und Inflation auf lange Sicht recht parallel entwickeln. Wenn die Inflation steigt, steigen zeitgleich tendenziell die Kreditzinsen, wenn die Inflation fällt, fallen tendenziell die Zinsen. Der Korrelationskoeffizient zwischen den beiden hier gezeigten Datenreihen beträgt relativ hohe + 0,65.
Einzelne Kreditnehmer können davon profitieren, dass Kreditzinsen und Inflationsraten im Zeitablauf nicht exakt parallel laufen, aber dafür werden ungefähr gleich viel andere durch den nicht perfekten Gleichlauf einen etwa gleich großen finanziellen Nachteil erleiden. Für die Mehrheit aller Kreditnehmer wird über die gesamte Laufzeit ihres Festsatzkredites, der üblicherweise zwischen 20 und 30 Jahre bis zur Volltilgung läuft und zwischendurch ein oder zwei weitere Zinsanpassungen erfährt, weder ein gravierender Vorteil noch Nachteil resultieren.
Vorteilhaft ist für den Kreditnehmer eine Konstellation, in der der Markt die spätere Inflation unterschätzt (also anfänglich zu wenig Inflation in den Kreditzinssatz einpreist), nachteilig ist eine Konstellation, in der es zu Beginn zur Überschätzung der Inflation kommt. Im letzteren Fall ist die Zinslast eines solchen Unglücksraben höher als sie es gewesen wäre, hätte der Markt die Inflation richtig eingepreist.
Warum erkennen wir die ökonomische Logik nicht?
Ein Grund, weswegen sogar Finanzjournalisten und viele kaufmännisch versierte Menschen diese Finanzmarktlogik nicht durchschauen, besteht darin, dass sie fehlerhaft nur auf den Tilgungaspekt blicken, also lediglich die vorteilhafte Hälfte des Inflationseffekts berücksichtigen. Seine nachteilige Seite – die Erhöhung der Zinslast – wird hingegen vergessen oder ignoriert. So kann natürlich kein korrektes Gesamtergebnis resultieren.
Ob sich für einen individuellen Kreditnehmer über die Gesamtlaufzeit seines Kredits aus der Inflation ein Nutzen oder Schaden ergibt, hängt einerseits von der spezifischen historischen Konstellation und andererseits von der Länge der Zinsbindung seines Kredites ab. Zum Aspekt Länge der Zinsbindung: Wer einen Immobilienkredit mit variabler Verzinsung aufnimmt – der kürzest-möglichen Zinsbindung – hat danach sehr wahrscheinlich einen Null-Effekt aus der Inflation. Wer einen Kredit mit zehnjähriger Zinsbindung aufnimmt, bei dem kann gleichermaßen ein großer inflationsbedingter Nutzen oder ein großer Schaden daraus resultieren.
Da die Inflation in Deutschland (wie auch den meisten anderen westlichen Ländern) ab Mitte 1981 bis Ende 2021 über 40 Jahre hinweg trendmäßig und deutlich fiel, könnte man mutmaßen, dass die meisten Kreditnehmer mit langen Zinsbindungen in diesen vier Jahrzehnten eher einen finanziellen Nachteil aus der tatsächlichen Inflationsentwicklung erlitten.
Galoppierende Inflation oder Hyperinflation
Eine spezielle Variante des Inflation-ist-gut-für-Kreditnehmer-Märchens besagt, dass Kreditnehmer durch eine galoppierende Inflation oder Hyperinflation schnell oder sogar über Nacht entschuldet würden. Tatsache ist, dass kein westlicher Staat – wo Regierungen bekanntlich auch auf die Unterstützung der ärmeren Hälfte der Bevölkerung angewiesen sind – eine nennenswerte Begünstigung von Immobilienbesitzern aus hoher Inflation tolerieren wird.
Betrachten wir dazu den Verlauf eines „historischen Feldversuchs“ in Deutschland, nämlich die Hyperinflation von 1921 bis 1923. Sie führte in der Tat zunächst dazu, dass damalige Immobilienkreditnehmer in sehr kurzer Zeit ohne eigenen Beitrag vollständig entschuldet wurden. Gehälter, Unternehmensgewinne und die Werte von Immobilien verzigtausendfachten sich in kürzester Zeit, während Kreditsalden unverändert blieben. So ließ sich jeder Kredit völlig mühelos tilgen. Das erschien anfänglich wunderbar für Kreditnehmer – ein „Windfall Profit“ für alle Schuldner.
Für den größeren, ärmeren Teil der Bevölkerung war die Hyperinflation indessen eine wirtschaftliche Katastrophe. Diese Bevölkerungsschicht besaß keine nennenswerten Sachwerte und hatte zuvor mangels Bonität keine Kredite zu deren Finanzierung aufnehmen können. Wenn diese Haushalte überhaupt etwas Vermögen besaßen, bestand dieses aus Bargeld und Bankguthaben. [1] Dessen realer Wert schrumpfte durch die Hyperinflation auf null. Gleichzeitig schoss die Arbeitslosenrate nach oben und ruinierte noch mehr Arbeitnehmerhaushalte.
In diesem Wirtschafts-Chaos hob die damalige Weimarer Reichsregierung unmittelbar nach Ende der Hyperinflation 1923 mit einem Bündel von Maßnahmen die Begünstigung von Immobilienvermietern allgemein und Immobilienkreditnehmern im Besonderen aus der Hyperinflation und der inflationsbedingten Beseitigung ihrer Immobilienkreditschulden wieder auf: 15% der zuvor von der Inflation auf null reduzierten Vorinflationsschulden lebten in neuer Reichsmark wieder auf. Ab 1924 wurde eine „Hauszinssteuer“ auf Mieteinnahmen eingeführt. Der Steuersatz auf die Bruttomiete (nicht auf den Vermietungsgewinn) betrug je nach Reichsland bis zu 40%. Damit Vermieter diese Zusatzkosten nicht auf ihre Mieter überwälzten, wurde eine Mietpreisdeckelung eingeführt. Diese Maßnahmen blieben 29 Jahre lang bis 1943 in Kraft und eliminierten vermutlich den gesamten Vorteil aus der inflationsbedingten Entschuldung.
Dass das Elend um die Hyperinflation 1922/23 zu den Ereignissen ab 1939 beitrug, bestreitet wohl niemand. Im Zweiten Weltkrieg erfolgte eine beispiellose Vernichtung von Immobilienvermögen in Deutschland. Als wäre das nicht schon genug, kam es danach noch zum Lastenausgleichsgesetz in Westdeutschland, das in allererste Linie Immobilienbesitzer traf. In der DDR und den ehemaligen deutschen Ostgebieten im heutigen Polen wurden nach Kriegsende im Wesentlichen alle Immobilienbesitzer enteignet.
Angesichts dieser Fakten zu glauben, man käme als Immobilienkreditschuldner wirtschaftlich unbeschadet oder sogar begünstigt durch eine galoppierende Inflation oder Hyperinflation, erscheint eher naiv. Das war 1921 ff. nicht so und wäre heute ebenso nicht der Fall.
Cui bono?
Zum Schluss stellt sich die Frage, warum das Märchen von der Weginflationierung von Kreditschulden, obwohl offensichtlich realitätsfern, trotzdem seit Jahrzehnten immer wieder neu als Wahrheit verbreitet wird. Siehe die Zitate am Anfang dieses Blog-Beitrags. Die Antwort hierauf ist einfach:
Für diejenigen, die direkt und indirekt an Verkauf und Finanzierung von Wohnimmobilien verdienen – Banken, Makler, Bauträger, Immobilienbuchautoren, Anbieter von Kursen zum Investieren in Immobilien – ist die Verbreitung der Fiktion wirtschaftlich hilfreich. Für Finanzjournalisten und YouTuber repräsentiert die Weginflationierungsthese Schreibmaterial, dessen Erwähnung sie beim Publikum kompetent erscheinen lässt.
Und weil das so ist, wird die Märchenstunde auch in den nächsten 20 Jahren immer wieder neu stattfinden, wenn sich Privathaushalte über Immobilienkreditfinanzierungen informieren möchten.
Die aktuelle Situation
Derzeit Anfang 2023 übersteigt die deutsche Inflationsrate mit rund sechs Prozent p.a. die Immobilienkreditzinsen von knapp vier Prozent p.a. Auf den ersten Blick sieht das nach einer für Kreditnehmer erfreulichen Konstellation aus. Aber auch jetzt offenbart nur ein Blick auf die Gesamtsituation die tatsächlichen Fakten und die sehen weniger erfreulich aus. Die Immobilienpreise sind seit Anfang 2022 bis heute real beträchtlich gefallen (siehe hier). Wer in dieser Zeit oder kurz davor gekauft und kreditfinanziert hat, erhielt einen heftigen finanziellen Schlag in die Magengrube. Der Kredithebeleffekt verwandelt nämlich bereits moderate Preisrückgänge auf Objektebene in deutlich höhere Verluste auf Eigenkapitalebene. Dazu kommt, dass derzeit auch der Anstieg der Haushaltseinkommen hinter der Inflation zurückbleibt, also der Weginflationierungseffekt vermindert wird.
Dass Inflation gut sei für Immobilienfinanzierer stimmt also selbst dann oft nicht, wenn die Inflation die Kreditzinssätze übersteigt.
Fazit
Für die meisten Immobilienkreditnehmer wird sich über die Gesamtlaufzeit ihres Kredits aus der Weginflationierung von Schulden keine nennenswert positive oder negative Auswirkung ergeben.
Die wenigen Schuldner, bei denen ein starker Einfluss besteht, können sowohl begünstigt sein als auch benachteiligt werden.
Wenn Ihnen Banker, Immobilienmakler, Bauträger oder „Immo-Coaches“ das verstaubte Märchen vom Weginflationierungseffekt erzählen, sollte Sie das als Warnsignal für mangelnde Kompetenz oder übergroßen Eifer beim Verkaufen deuten.
Endnoten
[1] Der sogenannte „kleine Mann“ hatte damals statistisch keine Kreditschulden, weil Immobilienkredite von Banken oder Bausparkassen an Arbeiterhaushalte und Haushalte der unteren Mittelschicht damals seltene Ausnahmen waren.